Propst Wilhelm Wibbeling (1891 bis 1966)
Jugendbewegter, reformierter Theologe im “Zeitalter der Extreme”
Die „jüngste“ Geschichte umfasst bald schon ein Jahrhundert – und doch ragt sie bis in unsere Gegenwart, denn sie ist für die evangelische Kirche verbunden mit den größten Umwälzungen und der größten Gefährdung seit der Reformation. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck arbeitet seit etlicher Zeit die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur auf, in der sie in vieler Hinsicht einen eigenen Weg gegangen ist. Dabei zeigt sich immer mehr, dass wir das Augenmerk auch auf die Jahre zuvor richten müssen, denn der Zusammenbruch des „landesherrlichen Kirchenregiments“ war für die protestantischen Kirchen eine große Herausforderung, aus der heraus man manch Problematisches verstehen kann (ohne es deshalb zu billigen!), aber auch die Motive für Opposition und Widerstand seit 1933 besser begreift. Und auch die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs muss mitbedacht werden: Die schweren Erschütterungen des so genannten „Kirchenkampfs“, wie wir die Auseinandersetzungen mit der Kirche und innerhalb der Kirche mangels eines besseren Begriffs nennen, sind ihrerseits Voraussetzung für viele Entscheidungen, deren Folgen wir bis heute spüren.
Die moderne Geschichtsschreibung hat dafür neue Perspektiven entwickelt und neue Horizonte eröffnet. Sie richtet ihr Augenmerk auch auf Einzelschicksale oder Ausschnitte, um an ihnen im Detail zu erzählen, „was geschehen sein könnte“, und so eine kritische Perspektive zu entwickeln. Darum spielt der biographische Zugang neben den Versuchen, Verfassungsgeschichte, Ereignisgeschichte und Sozialgeschichte zu dokumentieren und zu präsentieren, nach wie vor eine entscheidende Rolle. Hier kann exemplarisch Einblick genommen werden.
Peter Gbiorczyk, emeritierter Dekan des früheren Kirchenkreises Hanau-Land, hat das mit seinem nun vorliegenden Werk über den ersten Hanauer Propst der Nachkriegszeit, Wilhelm Wibbeling, in bewundernswerter Weise getan. Dabei gerät ein Aspekt in den Blick, den wir zunehmend aus den Augen verlieren, der aber für das Verständnis der kurhessischen Kirchengeschichte zumindest bis in die 1960er Jahre von großer Bedeutung ist: die Konfessionalität! Mit Wilhelm Wibbeling begegnet uns eine reformierte Tradition, die in Kurhessen – neben dem Luthertum – recht stark war, aber inzwischen aus dem Bewusstsein schwindet. Gerade für das Verständnis des kirchlichen Widerstands, der Bekennenden Kirche, ihres Bruderrates und der späteren Diskussionen um die Gestalt der Kirche ist dieser Faktor von entscheidender Bedeutung! Das spiegelt der Untertitel des Buches anschaulich wider: “Jugendbewegter, reformierter Theologe im ‘Zeitalter der Extreme‘“. Kundige werden ahnen, was sie erwartet, und wem diese Stichworte fremd sind, wird in entscheidende Gedanken- und Gefühlswelten des 20. Jahrhunderts eingeführt! Auf jeden Fall weckt der Titel Interesse.
Die zahlreich dokumentierten Auszüge aus Originaltexten und die Bilder machen das Buch zu einer Quelle, die Bibliographie und vor allem die Biogramme machen es zu einem Studienbuch alter Schule. Gbiorczyks Buch ist nicht nur das Ergebnis von Forschung, es kann auch weitere Untersuchungen anregen und unterstützen. Ich beglückwünsche den Autor, dass ihm das gelungen ist, und freue mich, dass wir als Landeskirche dieses Projekt unterstützen konnten. Es reiht sich ein in eine inzwischen recht ansehnliche Reihe von regional- und personalgeschichtlichen Untersuchungen aus der Hand von historisch Interessierten, die helfen, ein möglichst genaues Bild zu bekommen. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit fängt gerade erst an.
Kassel, im August 2016
Professor Dr. Martin Hein
Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck